Den Schmerz der Erde durch das Herz fliessen lassen

Daniel Wiederkehr

Die Zeitung “reformiert” veröffentlichte im November 2023 ein Dossier Ökospiritualität. Darin berichtet Veronica Bonilla Gurzeler vom Besuch eines Seminars, welches ich im September 2023 in Winterthur angeboten habe. Sie schreibt: 

Tiefenökologie In Winterthur bringt Pfarrer Daniel Wiederkehr die Ökospiritualität in die Kirche. Und schafft einen Raum, in welchem Angst und Schmerz über den Zustand der Welt gesehen und in Hoffnung und Handeln verwandelt werden können.

Eine recht gewöhnliche, aber weitum bekannte Pflanze gibt die Struktur der beiden Abende über Ökospiritualität in der reformieren Kirche Mattenbach in Winterthur vor: der Löwenzahn, auch Chrottepösche, Söiblueme oder Remschfädere genannt. Ihre Pflanzenteile stehen für vier Schritte, mit denen schwierige Situationen oder Krisen sinnvoll durchlebt werden können. Der Prozess nennt sich auch Spirale der Tiefenökologie. Entwickelt wurde er von Joanna Macy, 94, Systemtheoretikerin und Grande Dame der US-amerikanischen Friedens- und Umweltbewegung.

Am ersten Kursabend liegt ein kleines Bild vom Löwenzahn auf den Stühlen der neun Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Wurzeln sind mit «Dankbarkeit» beschriftet, das Blattwerk mit «den Schmerz ehren». Bei der gelben Blüte, die zur Pusteblume wird, steht «mit neuen Augen sehen» und bei den davonfliegenden Samenständen «weitergehen».

Nach der Begrüssungsrunde erklärt Pfarrer Daniel Wiederkehr, was es damit auf sich hat: «Die Ökospiritualität will ein gutes Miteinander aller Lebewesen, sie geht davon aus, dass wir Teil eines grösseren Ganzen sind. Allerdings verhalten wir Menschen uns oft gegenteilig. Wir schädigen uns selbst und unsere Umwelt.»

Um dies verändern zu können, ist für Joanna Macy entscheidend, das Leid und den Schmerz zu fühlen. Die Amerikanerin beruft sich dabei auf den buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh, der auf die Frage, was zu tun ist, um die Welt zu retten, geantwortet hat: «Am dringendsten müssen wir in unserem Innersten hören, wie die Erde weint.»

Daraus ist «the work that reconnects» entstanden, wie Macy es nennt – die Arbeit, die wiederverbindet. Die Spirale der Tiefenökologie ist eine Anleitung dafür. Im ersten Schritt, den die langen und weitverzweigten Pfahlwurzeln des Löwenzahns symbolisieren, geht es um die Verankerung in der Dankbarkeit. «Wir werden uns bewusst, welch grosse Fülle uns geschenkt wurde, die für uns eine Ressource darstellt», sagt Daniel Wiederkehr.

Im Seminarraum bringen die Leute jetzt ihre Stühle in Zweier- oder Dreiergrüppchen ans Fenster oder in eine Ecke. Wiederkehr spricht Satzanfänge, die eine Person beendet, während die andere ihr zuhört: «Einige Dinge, die ich liebe und die mich auf besondere Art mit der Erde verbinden, sind…» Lia (59) muss nicht lange überlegen: «Tanzen, am liebsten in der Natur. Schwimmen im See.» Für Regula (88) ist es die Gartenarbeit: «Heute habe ich Kompost gemacht.»

Nun geht es um einen Platz, der in der Kindheit zauberhaft war: Lia ist auf alle Bäume geklettert und war gerne bei ihrer Grossmutter. Auch Regula erinnert sich an einen grossen Kastanienbaum vor dem Haus, der ihr Kletterbaum war. Während die sieben Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 25 und 88 Jahren weiter darüber reden, wer sie in ihrem Leben unterstützt hat, an sich selbst zu glauben oder was sie an sich selbst schätzen, beginnen ihre Augen zu leuchten und ihre Gesichter lächeln – beim Erzählen und ebenso beim Zuhören. Danach tauschen sie sich kurz aus, was die Übung bewirkt hat. Regula und Lia sind erstaunt und erfreut, wie tief sie sich verbunden fühlen, obwohl sie einander vorher nicht gekannt haben.

Die Gruppe kommt zurück in den Kreis und die folgende, von Wiederkehr angeleitete Meditation leitet den zweiten Schritt in der Spirale ein, symbolisiert von den gezackten Blättern des Löwenzahns. «Wir würdigen den Schmerz über die Welt, denn er ist eine gesunde Reaktion und ein Zeichen, dass wir noch nicht verlernt haben zu fühlen», sagt Wiederkehr. Alle haben sich bequem eingerichtet, einige auf Mediationskissen am Boden, Lia hat ihre Stiefeletten ausgezogen. Wiederkehr liest langsam und mit langen Pausen einen Meditationstext aus Joanna Macys Buch «Active hope». Er lädt die Anwesenden ein, sich für das gegenwärtige Leid der Mitlebewesen in der Welt zu öffnen und «den Schmerz durch das eigene Herz fliessen zu lassen».

Die nächste Übung bringt wieder Bewegung in die Gruppe. Alle laufen quer durch den Raum und wenn Wiederkehr ein Signal gibt, bleiben sie vor der nächsten Person stehen, schauen einander in die Augen. Als der Pfarrer jetzt von der Not hungernder Menschen, der Qual eingesperrter Tiere und der misshandelten Erde spricht, laufen Lia die Tränen über die Wangen. Erst versucht sie noch, sie zurückzuhalten und wischt sie energisch weg. Doch die Gefühle, die das das Augenwasser zum Fliessen bringen, sind stärker.

«Ich war überrascht von meiner heftigen Reaktion», sagt die Schulsozialarbeiterin hinterher. «Ich weine schon manchmal, aber nur für mich im Stillen.» Zuerst habe sie sich ein bisschen geniert wegen der Tränen. «Aber dann hat sich etwas gelöst und es tat gut, vom Gegenüber gesehen zu werden.»

Joanna Macy hat bereits in den 1980er Jahren begonnen, «Verzweiflungsseminare» abzuhalten – so nannte sie sie damals. Ihr war klar geworden, dass die grösste Gefahr das Verdrängen ist. «Wir brauchen Orte, wo wir trauern können, wo wir unser kollektives Trauma über den Zustand der Welt fühlen können.» Der gefühlte Schmerz befreie unsere Hilfsbereitschaft, ermögliche uns, die Welt mit neuen Augen zu sehen und einen Wandel herbeizuführen – die dritte und vierte Stufe in der Spirale der Tiefenökologie.

Durch diese beiden Stufen wird Daniel Wiederkehr die Gruppe am nächsten Ökospiritualität-Abend führen. In der Abschlussrunde teilen die Leute, was sie am heutigen Abend berührt hat. Mehrere erwähnen das Vertrauen und die Nähe zu einander, die durch die Übungen entstanden seien. Die Möglichkeit mitzufühlen. Die Verbindung mit dem «Gewebe des Lebens». Die schönen Erinnerungen, die geweckt wurden – alles Ressourcen, um Schwieriges durchleben zu können.

Lia freut ganz besonders, dass sich die Kirche auch auf spiritueller Ebene mit Umweltfragen auseinandersetzt und neue Wege geht: «Es bewegt sich etwas. Die Kirche ist unterwegs in eine neue Zeit.»

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